Das Dorf mit dem sperrigen Namen Saint-Michel-de-Chabrillanoux liegt in schöner Aussichtslage über dem Eyrieux-Tal in der Ardèche. Es ist bekannt für sein Open-Air-Festival Mitte Juli, das dieses Jahr zum 41. Mal stattfindet, seine mächtige, 1848 gepflanzte Friedens-Ulme und seine zahlreichen alternativ-grünen Bewohner, die hier die Nestwärme von Gleichgesinnten suchen. Und dann gibt es noch eine katholische Kirche und einen protestantischen Temple, die betont weit voneinander entfernt an den Dorfrändern stehen. Anlässlich des Fests fand bei den Katholiken eine Ausstellung mit Fotos der schönsten Dörfer der Ardèche und bei den Protestanten eine zum Thema Bienen statt. Diese Ausstellung war enttäuschend, das neuste Buch des Fotografen hingegen war eine Entdeckung!
Hausfotograf der Bienen
Eric Tourneret, Jahrgang 1965, reist seit über zehn Jahren durch die ganze Welt, um Bienen, Honigsammler und Imker zu fotografieren und zu filmen. Er zählt zu den Prominenten seines Metiers, ist unter anderem für Paris Match, Figaro und Geo tätig, wohnt, wenn er nicht unterwegs ist, mit seiner Familie mitten im Departementshauptort Privas und widmet sich seinen neun Bienenstöcken, die auf einer Wiese am Stadtrand stehen. Im September 2015 ist sein neustes Buch zu diesem Thema mit dem Titel «Les Routes du Miel» erschienen. Es ist ein in jeder Beziehung schwergewichtiges Werk: 352 Seiten mit durchgehend farbigen Fotografien und Texten von ihm und seiner Frau, Sylla de Saint Pierre, sowie von namhaften Experten. Der Preis von 45 Euro ist für dieses 3 Kilogramm schwere, großformatige und großartige Buch bestimmt nicht zu hoch. Es ist unvorstellbar, dass es nicht nächstens in einer deutschen Übersetzung (die ich sehr gerne übernehmen würde!) erscheinen wird.
Das Faszinierende an diesem Bildband ist, dass er sich nicht ausschließlich mit den Honigbienen beschäftigt, sondern auch oder sogar vorwiegend mit den Menschen, die sich dem Honig verschrieben haben. Die Reise führt in 23 Länder sowie die Großstädte Paris, New York, London und Berlin. Sie beginnt in China, wo Frauen die Rolle der Bestäuberinnen auf den Obstbaumplantagen übernehmen. Weiter geht’s in die USA, nach Arizona, wo fahrende Imker die Mandelbaumwälder besuchen und wegen der Pestizide bei ihren Bienenvölkern große Verluste in Kauf nehmen müssen. Bei den Pygmäen des Kongos tauchen wir in die so ganz andere Welt der Honigsammler im Urwald ein. Man erfährt nicht nur, wie sie es schaffen, in schwindelerregender Höhe den begehrten Nektar zu gewinnen, sondern nimmt auch an ihrem Familienleben teil. In Indien klettern Angehörige der Kaste der Unberührbaren an Felswänden hoch, wo die asiatische Riesenbiene Apis dorsata Kolonien bildet und sich vehement gegen Räuber wehrt.

Für solche Aufnahmen griff der Fotograf nicht zum Teleobjektiv, sondern schwang sich selbst in die Höhe und wurde ebenfalls heftig attackiert… Seine Frau erinnert sich, dass ihr Eric in Nepal bei strömendem Regen auf 80 Metern über dem Boden in einer Hängeleiter baumelte, umschwärmt von Hunderten von Bienen, und seine Höhenangst vergaß, weil er nur eines im Sinn hatte: dieses atemberaubenden Erlebnis in guten Aufnahmen zu dokumentieren.
Intelligenter als der Mensch
Atemberaubend sind auch die außergewöhnlichen Aufnahmen von Bienen aus ungewohnten Perspektiven. Dank dem unerschrockenen Franzosen erhält man Einblicke, die selbst Bienenkenner überraschen. Ganz abgesehen von den zahlreichen Arten, die den meisten unbekannt sein dürften und die manchmal auf den ersten Blick nicht unbedingt als Bienen erkennbar sind. Ein Beispiel ist die knallgrüne Euglossa hemichlora, eine Art aus Panama, deren Sozialleben an ein Shakespeare-Drama erinnert. Oder die längs schwarz-gelb gestreifte, stachellose Paratrigona ornaticeps, die in Panama in Baumstrünken lebt. Zudem gibt es auch Ameisen, die Honig produzieren (Bild links). Dramatische Bilder lieferte der Kampf der Honigbienen gegen die Asiatische Riesenhornisse, einen wahren Goliath, während der Angriff der Varroa-Milbe auf eine Bienenlarve dank dem Makro aus nächster Nähe beobachtet werden kann. Und vieles, sehr vieles mehr…
Eric Tourneret will auch weiterhin die Geheimnisse der Bienen ergründen und seine Mitmenschen mit faszinierenden Fotografien und Berichten überzeugen, dass sich der Einsatz für diese vielfältige Insektengruppe lohnt. Geplant ist ein Film mit noch nie dagewesenen Makro- und Mikroaufnahmen. Und wenn der Sommer zu Ende ist, reist er nach Argentinien und Chile, um seine Begegnungen mit Bienen und Bienenmenschen zu vertiefen. Sie sind sein Credo, sein Lebensinhalt. Seiner Meinung nach verfügen diese magischen Wesen über eine höhere Intelligenz als der Mensch: «Die Bienen produzieren keine Abfälle. Noch besser: Sie konstruieren ihre Materialien selbst und sind außerdem schon viel länger auf der Erde als wir.» Seit mindestens 75 Millionen Jahren, nach der Datierung der ältesten bekannten fossilen Biene zu schließen, die in Bernstein eingebettet im US-Staat New Jersey gefunden worden war: Cretotrigona prisca sammelte übrigens bereits Honig für ihren Nachwuchs.
Eric Tourneret – Sylla de Saint Pierre, Les Routes du Miel, Editions Hozhoni 2015