Diesen Juli war es im Eyrieux-Tal tagsüber selten still. Dafür sorgten die Singzikaden mit ihrem durchdringenden Trommeln. Sie mögen es warm, es muss mindestens um die 25 °C sein, bis sie zu hören sind. Die lokale Tageszeitung «Le Dauphiné Libéré» widmete dem Symbolinsekt der Provence eine ganze Seite und verkündete, sie hätten dieses Jahr sogar Tag und Nacht gesungen. Das ist ein wenig übertrieben, aber es stimmt, dass sie abends auch bei Dunkelheit noch stridulierten, was das Zeug hielt.
Der Zikadenspezialist und Bioakustiker Jérôme Sueur (er erforscht die Laute und deren Erzeugung bei Tieren) vom Naturhistorischen Museum Paris wird diesen Sommer in guter Erinnerung behalten. Die Population sei im mediterranen Milieu wohl selten so groß gewesen, es gab wesentlich mehr als die üblichen zwanzig Individuen auf 100 m2. Warum das so ist, kann der junge Forscher jedoch nicht mit Sicherheit sagen, weil historische Aufzeichnungen als Vergleichsmöglichkeit fehlten. Vermutlich sei jedoch das Wetter dafür verantwortlich, es habe dieses Jahr keine starken Unwetter gegeben, durch die die unterirdisch lebenden Larven dezimiert werden.
Eine Neue aus dem Balkan
Und noch eine gute Nachricht: 201O wurde in den Departementen Ardèche und Var eine neue Zikadenart entdeckt. Dimissalna dimissa heißt die 20 bis 25 mm kleine Einwandererin aus dem Balkan. Ihr Gesang ist nicht für alle bestimmt, denn wegen seiner hohen Frequenz haben selbst viele junge Leute Mühe, ihn zu hören. Offensichtlich hat sie den Süden Frankreichs schon einige Jahre früher besiedelt und wurde übersehen und überhört: Der französische Entomologe Henri-Pierre Aberlenc hat schon 1984 ein Exemplar im märchenhaft schönen Bois de Païolive in der Südardèche gefangen.
Auf der Suche nach weiteren Informationen über Dimissalna dimissa bin ich auf Aberlencs Homepage http://www.aberlentomo.fr gestoßen. Und siehe da: Der namhafte französische Forscher warnt «die Bürger Europas» eindringlich vor dem galoppierenden Rückgang der Insekten. Mit wenigen Ausnahmen seien sie seit den 1950er Jahren auf Talfahrt, besonders rapid seit 1990. Darunter würden auch von ihnen abhängige Arten wie Vögel, Reptilien und Fledermäuse leiden. Dabei seien die Honigbienen nur die Spitze des Eisbergs (auch damit gehe ich mit ihm völlig einig). Doch davon später… Es sollte ja zum Auftakt ein hoffnungsvoller Blog werden, bei dem es nicht stets heißt: Früher war alles besser.
Lavendel und Reben mögen sie sehr
Zikaden haben das Glück, sich in ihrem ganzen Lebenszyklus ausschließlich von Pflanzen zu ernähren. Als Larven im Boden fressen sie vor allem Wurzeln, und als Vollinsekt in Wiesen, Büschen und auf Bäumen saugen sie Pflanzensäfte. Sie haben auch in einer von anderen Insekten freien Welt eine Überlebenschance, sollte man meinen. So einfach ist es leider doch nicht. Laut Wikipedia geht es auch den Zikaden in Deutschland nicht besonders gut, rund die Hälfte der 619 nachgewiesenen Arten steht auf der Roten Liste, wobei «nur» 56 Arten vom Aussterben bedroht sind. Andererseits soll sich der Klimawandel für diese wärmeliebende Schnabelkerfen positiv auswirken… weshalb Zikaden etwa von den Winzern als unerwünschte Gäste betrachtet und unter anderem mit Glyphosat bekämpft werden. Und so paradox es tönt: Für die Lavendelbauern in der Provence ist die Winden-Glasflügelzikade Hyalesthes obsoletus sogar zum existenzbedrohenden Alptraum geworden. Das grüne, nur 4 Millimeter kleine Tierchen kann beim Saugen Bakterien übertragen, durch die die Pflanzen gelb werden und absterben. Dem Bakterium Stolbur-Phytoplasma fiel hier zwischen 2005 und 2010 die Hälfte der Lavendelproduktion zum Opfer. Die jetzt im Sommer 2015 herrschende Hitze lässt für diesen Sektor nichts Gutes ahnen. Am 15. August findet in Sault das berühmte Lavendelfest statt. Möglicherweise wird man dann auch Neues über die Winden-Glasflügelzikade erfahren.