INSEKTEN ERHALTEN EINE LOBBY

PetitionAllmählich wird man sich auch in der Schweiz bewusst, dass gegen den Insektenschwund etwas unternommen werden muss. Die Petition «Insektensterben aufklären» der Naturfreunde und ihrer Partner dark-sky, apisuisse und Schweizer Bauernverband hat seit dem vergangenen September bis heute (22.11.) rund 120’000 Unterschriften gesammelt. Sie verlangt, dass «Ursachen und Tragweite des Insektensterbens» in der Schweiz aufgeklärt und in der Folge Maßnahmen umgesetzt werden, die dieses Massensterben stoppen. Dass ihr Anliegen vielleicht ein wenig zu ambitiös ist, scheint auch ihnen klargeworden zu sein. Immerhin: «Ein erster, kleiner Teilerfolg darf bereits vermerkt werden: Wer sich umschaut, wer sich umhört, stellt fest, dass das Thema nun auch in den Medien und sozialen Netzwerken vermehrt auftaucht. Das Insektensterben ist damit allerdings noch nicht gestoppt. Aber zumindest scheint eine Sensibilisierung in Gang zu kommen. Und damit die Erkenntnis, dass mit dem Verschwinden der Insekten auch unsere eigene Lebensgrundlage auf dem Spiel steht.» Besser das als nichts! Siehe www.insektensterben.ch

RappazHanfpionier, Biobauer und Hobbyangler
Der Walliser Bürgerschreck Bernard Rappaz ist schweizweit bekannt. Vor allem als illegaler Hanfbauer, der insgesamt acht Jahre im Gefängnis saß und mit seinen spektakulären Hungerstreiks für Schlagzeilen sorgte. Er sei ruhiger geworden, das Alter eben, gesteht der 65-Jährige, der heute legal mit Hanfprodukten handelt und als Biobauer Gemüse und Obst zieht. Letzteres betreibt er seit 1975, wie er in einem am 19. November 2018 im «Nouvelliste» erschienenen Leserbrief betont. Auch damals sei er ein misstrauisch beäugter Pionier gewesen, während heute 380 Walliser Landwirte auf chemische Produkte verzichten und die Nachfrage nach Bio-Produkten ständig steige.

Hufeisen_AzurjungferDoch die Natur sterbe dennoch, bedauert Rappaz: «Die Biodiversität schrumpft, die Insektenpopulationen verschwinden und mit ihnen alle Insektenfresser, darunter auch die Vögel. Ist dieser Genozid der Auftakt zum Weltuntergang? Wollen wir wirklich, dass unsere Kinder den Vogelgesang draußen, in der Natur, nicht mehr hören können? Als Angler erinnere ich mich noch an die unglaubliche Menge an Forellen in den Kanälen und Flüssen der Walliser Rhoneebene. Heute gibt es in den Fließgewässern, die Landwirtschaftszonen durchqueren, keine Fische mehr, während jene in intakteren Naturgebieten gut bestückt sind. Schuld ist die Agrochemie.» Und er beklagt unsere Behörden, die sich eher halbherzig für eine Lösung ohne Pestizide einsetzen. «Welch verhängnisvolle Heuchelei! Um die multinationale Agrochemie zu schützen?»

csm_1801_Hans-Dietrich-ReckhausVom Saulus zum Paulus
Unter dem Titel «Eine Lobby für Mücken, Motten und Fliegen» berichtete die NZZ am 16. November über den Sinneswandel von Hans-Dietrich Reckhaus, der bereits in meinem Blog «Erika von Deppendorf» am 9. Februar 2016 vorgestellt wurde. Dem Hersteller von Insektiziden für den Haushalt (Standorte Gais in Appenzell-Außerrhoden und Bielefeld) sei bewusst geworden, «dass er mit seiner Firma ein schlimmerer Schädling ist als all die Sechsbeiner, gegen die ihre Produkte eingesetzt werden. Heute ist er ein Kämpfer für die Insekten. (…) Der 52-jährige Deutsche will Mittel auf den Markt bringen, welche die Tierchen abschrecken, aber nicht töten.» Und er organisierte mit BirdLife Schweiz den ersten Schweizer Tag der Insekten. «Die Welternährung ist das zentrale Thema der Aarauer Tagung, die der Schaffung einer Schweizer Insekten-Lobby dient. Denn der Bestand der Insekten geht wegen Monokulturen und des Einsatzes von Pestiziden und chemischen Düngern weltweit dramatisch zurück. Auch hierzulande hat das Insektensterben erschreckende Ausmaße erreicht; rund 45 Prozent der Arten sind bedroht. Dies wiederum gefährdet die Pflanzenbestäubung und damit die Ernährungsgrundlage von Mensch und Tier.» Illustriert ist der Artikel mit getrockneten Mehlwürmern auf einer Brotscheibe. Soll die Zukunft des Essens wirklich so aussehen?Insekt an GAbel

Dieser Meinung sind offenbar Adreas Knecht und Edit Horvath, die Autoren des neuen Kochbuchs «Köstliche Insekten», das die Migros herausgibt. Mehlwürmer, Grillen und Heuschrecken seien seit kurzem auch bei diesem Schweizer Großverteiler erhältlich. Daraus könne man alles auf den Teller zaubern, von Snacks über Vor- und Hauptspeisen bis zu Desserts. Eine Biologin und Tierschützerin stellte zu diesem Trend die Frage, ob es ethisch verantwortbar sei, Insekten mit ihrem hochdifferenzierten Verhaltensspektrum wie eine Ware zu züchten und zu verarbeiten. Schließlich seien sie auch Tiere, die ein Anrecht auf artgerechte Haltung haben sollten.

 

ERIKA VON DEPPENDORF

Erika_nah-300x180Selten hat ein einzelnes Insekt soviel mediale Aufmerksamkeit erregt wie die Stubenfliege namens Erika. Dahinter steckt ein deutsch-schweizerisches Happening, das mehr sein will als ein lustiger Event, sondern mit hochgesteckten ökologischen Zielen verbunden ist und unlängst mit dem Schweizer Ethikpreis honoriert wurde. Aber eins nach dem andern…

Vom Saulus zum Paulus
Die 1956 gegründete deutsche Firma Reckhaus GmbH Co. produziert eine Palette von Insektenbekämpfungsmitteln für den Hausgebrauch. In deren Visier stehen vor allem Fliegen, Mücken, Trauermücken, Ameisen und andere Untermieter, die man lieber vor die Türe setzen möchte. Hauptsitz des Unternehmens ist mit 50 Angestellten und rund 20 Millionen Euro Umsatz Bielefeld, seit 1999 befindet sich die Verwaltung im appenzellischen Gais. Der Sohn des Gründers, Hans-Dietrich Reckhaus, hatte an der Wirtschaftshochschule St. Gallen studiert und dabei Gefallen an der Hügellandschaft dieser Gegend gefunden.

FliegenrettungAls Schöngeist, der sich eher für Literatur und Kunst als für die Vernichtung von Insekten interessierte, aber dem Betrieb dennoch nicht untreu werden wollte, stand er zwischen Tür und Angel. Bis «Flippi», eine klebende Fliegenfalle, die ans Fenster geklebt wird, patentiert wurde. Um das neue Produkt zu propagieren, wandte sich Hans-Dietrich Reckhaus an das «Atelier für Sonderaufgaben» der Zwillingsbrüder Frank und Patrik Riklin in St. Gallen. Die Konzeptkünstler redeten dem Fabrikanten ins Gewissen, und er liess sich davon überzeugen, dass man Fliegen nicht einfach umbringen dürfe, sondern sie vielmehr retten solle. So kam die Aktion zustande, die 2012 unter dem Motto «Fliegen retten in Deppendorf» begann. Die Ortschaft in Nordrhein-Westfalen mit dem politisch wohl kaum korrekten Namen machte begeistert mit, briet Würste, schenkte Bier aus, kreierte sogar einen «Fliegenschnaps» und fing 902 Fliegen, ohne sie zu töten, darunter auch die berühmte Erika.

Die Brüder Riklin hatten mit ihr einiges im Sinn: «Wer fliegt mit einer Fliege in den Wellness-Urlaub? Eine der geretteten Fliegen reist mit einem Fliegenretter-Paar für drei Tage in ein bayrisches 5-Sterne-Hotel – mit Hubschrauber, Flugzeug und Taxi. Was passiert, wenn ein Unternehmer für Insektenbekämpfung in das weltweit erste Flugticket für eine Fliege investiert? Wie reagiert eine Stewardess, wenn ein vermeintlich leerer Sitzplatz der Lufthansa offiziell mit einer Fliege als Passagierin besetzt ist?» Wie das Bordpersonal reagiert hat, ist nicht überliefert. Das ungewöhnliche Unternehmen war vielleicht nicht besonders ökologisch, erzielte jedoch den erwünschten PR-Effekt: Erika machte fette Schlagzeilen.Fliege Erika

Erika lebte nach ihrer Rettung dank guter Pflege noch fünf Wochen. Während ihre 901 Artgenossen in einem mit rotem Samt ausgeschlagenen Massensarg endeten, wurde Erika präpariert und kam in einen Banksafe der UBS Teufen. Die Begründung für ihre Aktion liefern die Konzeptkünstler auf ihrer Homepage: «Die vermutete Absurdität des Fliegenrettens eröffnet eine neue Dimension in der Welt der Insektenbekämpfung, indem die kreative Anstiftung der Kunst das Denken und Handeln eines Unternehmers entscheidend beeinflusst. Dieser Transformationsprozess zeigt, dass die Kunst fähig ist, einen Unternehmer vom ‹Insektenbekämpfer› in einen ‹Insektenretter› zu verwandeln.»

Am 2. März 2015 wurde Erika in Anwesenheit von über fünfzig Gästen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Medien in der Hochschule St. Gallen feierlich in einem Sarkophag im Fussboden des Erdgeschosses bestattet. Damit wurde sie auch in die berühmten Kunstsammlung der HSG integriert. Der Stifter des Kunstwerks, Dr. Hans-Dietrich Reckhaus, hat sich inzwischen ein Konzept ausgedacht, das seine Insektizide durch Ausgleichsflächen zu «ökoneutralen Bioziden» mutieren soll. Demnach werden von der Firma Reckhaus die durch Biozide verursachten Schäden «auf der Basis eines weltweit einzigartigen wissenschaftlichen Modells» berechnet und durch die Anlage von insektenfreundlichen Grünflächen mit Totholz, Sand, Steinhaufen, Tümpeln usw. kompensiert. Nach dieser Rechnung soll ein Biotop von 200 Quadratmetern 72 000 Fliegenfallen kompensieren. Das Projekt läuft unter dem Gütesiegel «Insect Respect» und beteiligt die Käufer mit dem bescheidenen Betrag von 10 Cent an der Wiedergutmachung.Fliege signet

Mehr zum Thema unter: www.insect-respect.org/projekte/ausgleichsflaechen.html, www.sonderaufgaben.ch

Das Buch zum 60-Jahr-Jubiläum der Firma von H.-D. Reckhaus, «Warum jede Fliege zählt», kann in der Papierversion gratis (zuzüglich Versandkosten) bestellt oder als PDF heruntergeladen werden: www.reckhaus.com